3. Berufsnotorische BesserwisserSpektrum
12.08.2010, Dr. Christian Gapp, Bonn

Der Rezensent, Egbert Scheunemann, betont zu Beginn seiner Ausführungen, das Buch „Vom Urknall zum Durchknall“ sei in einem seriösen Verlag erschienen. Das ist ganz wichtig für ihn, den Philosophen, denn wenn ein seriöser Verlag das Pamphlet eines studierten Physikers und praktizierenden Gymnasiallehrers herausbringt, dann ist das ja ein Gütesiegel. Vor allem für Scheunemann, der schreibt, wie sehr er Unzickers Ansichten teile. Denn indirekt werden so auch seine eigenen Ansichten wissenschaftlich aufgewertet.
     Was auch immer der Grund gewesen sein mag für den Verlag, das Buch zu verlegen, mag dahingestellt sein – welcher Wissenschaftsverlag will schon einfach nur Geld verdienen? Was mich hier viel mehr interessiert ist, wieso das SPEKTRUM das Buch eines berufsnotorischen Besserwissers (Lehrer ?) durch einen zweiten (Philosoph) rezensieren lässt, der selbst keine physikalische Meriten hat und ein erklärter Gegner Einsteins ist.
     Scheunemanns eigenes Buch „Irrte Einstein?“ /1/ mit seinen ellenlangen Widerlegungen von Zeitdilatation, Längenkontraktion und Zwillingsparadoxon ist insbesondere beliebt bei denen, die gegen die vermeintliche Wissenschaftsmafia anrennen. Sie behaupten, diese Mafia verträte seit einem Jahrhundert Einsteins offensichtlich falsche Theorien und mobbe Kritiker permanent aus dem Wissenschaftsbetrieb heraus. Es ist populär geworden, gegen eine „Wissenschaftsmafia“ anzurennen, ob Klimaskeptiker, Anti-Darwinisten oder eben die Feinde Einsteins. Trotz seiner Liebesschwüre in Richtung Physik übernimmt Unzicker diese unselige Terminologie /2/. Bei aller Liebe zu farbigen Ausdrücken und unterhaltsamen Formulierungen ist dies die Stelle, an der sich die (Natur-) Wissenschaftsskeptiker jeglicher Couleur zufrieden einklinken können.
     Genussvoll zitiert Scheunemann Unzicker: „Wenn nach dem Äquivalenzprinzip aber Schwerefeld und Beschleunigung gleich zu behandeln sind, dann müssten in einem Gravitationsfeld ruhende Ladungen ‚einfach so’ Energie abstrahlen – ein nicht ganz geklärtes Problem.“ Würde dieses Problem wirklich existieren (tut es nicht), wäre Einsteins ART vollkommen gescheitert, denn er hatte sie zunächst genau deshalb entwickelt, um elektromagnetische und mechanische Phänomene in beschleunigten Bezugssystemen zu beschreiben, nicht als neue Gravitationstheorie. Dies ist ein alter Trick der Einsteinhasser: Nimm eine zentrale Aussage und „beweise“, dass sie „offensichtlich“ falsch ist. So wird selbst die Faraday’sche Unipolarmaschine weiterhin gerne als Widerlegung der Speziellen Relativitätstheorie angeführt, obwohl sich schon Richard Feynman vor einem halben Jahrhundert in seinen berühmten Vorlesungen der Widerlegung der Widerlegung gewidmet hatte.
     Ergo, wer sich das Unzicker-Buch kauft, weil es von einem Besserwisserverlag verlegt und einem zweiten toll rezensiert worden ist, der wird wahrscheinlich schwer enttäuscht werden. Denn es enthält physikalisch und konzeptionell nichts Neues. Ist der Ärger über das unnötig ausgegebene Geld aber erst mal verraucht und man beginnt sich zu fragen, warum Unzicker denn überhaupt so unzufrieden ist, dann materialisiert sich vielleicht doch noch eine Erkenntnis.
     Ästhetische Überlegungen spielten in der Theorienbildung der Physik immer eine große Rolle. Aber so wie die Kunst des 20. Jahrhunderts den intuitiven Kunstbegriff des „Schönen und Guten“ lange hinter sich gelassen hat, hat sich der Begriff des Ästhetischen in der Physik gewandelt oder gar ganz verflüchtigt. Theoretische Physik ist schon lange Avantgarde und längst nicht einfach mehr nur schön anzusehen. Das treibt Gymnasiallehrer und Philosophen natürlich auf die Palme /3/.

 

/1/ http://www.egbert-scheunemann.de/Relativitaetstheorie-Buch-Scheunemann-Version-1-Zusammenfassung.pdf
/2/ Kapitel 14: Abschied von der Wissenschaft. Stringtheorie und andere Religionsanhänger. Oder: Von der Elite zur Sekte zur Mafia
/3/ Auch forschende Physiker mit Liebe zur Kunst und klassischem Ästhetikverständnis haben hier ihre Probleme, beispielsweise Mario Livio („The Accelerating Universe“).
 

 
 

Anmerkungen zum Leserbrief (27.12.2011)

Spektrum. Erschienen bei Spektrum.de als 3. Leserbrief zu E. Scheunemanns Rezension des Buchs "Vom Urknall zum Durchknall"

 
  ? Unzickers Buch hatte mich zu der Besserwisser-Überschrift inspiriert. In seinem Buch schreibt Unzicker, Lehrer hätten den Ruf, "vormittags Recht und nachmittags frei" zu haben (S. 319, "Vom Urknall zum Durchknall", Springer-Verlag, korrigierter Nachdruck 2010, ISBN 978-3-642-04836-4).
     Diese vermeintliche Selbstironie Unzickers ist für mich allerdings nichts weiter als Teil einer Immunisierungsstrategie, mit der er sich vor Kritikern schützen will. Denn auf jeder Seite seines Buches positioniert er sich als Besserwisser. Er lehnt nicht nur die in den 1980er-Jahren aufgekommene Stringtheorie ab, wie viele seiner Rezensenten meinen, und so wie der (ehemalige) Stringphysiker Lee Smolin, den er dauernd zitiert; nein, Unzicker weiß, dass alles noch viel schlimmer ist und des Übels Wurzel viel, viel tiefer sitzt.

     Tatsächlich belegt sein Buch, dass er die moderne Physik seit dem 2. Weltkrieg als Ganzes im Wesentlichen ablehnt. Er hat grundsätzliche Probleme mit der "pragmatischen" Physik, die seiner Ansicht nach die Physik dominiert, seitdem Physiker vor den Nazis in die USA geflüchtet waren: "Obwohl viele führende Köpfe der Physik in die USA emigrierten, gelang es ihnen dort nicht, eine wissenschaftliche Kultur der grundlegenden Fragen wie im Europa der Vorkriegszeit zu etablieren." (S. 305, ebd) Eine Aussage, die nicht einmal ansatzweise belegt werden kann. Und weiter (S. 306, ebd): "Insgesamt kann man wohl die Beiträge zur Physik der alten und neuen Welt gewichten wie jene der Griechen und der Römer zur Philosophie."

     Unzickers Buch handelt somit nicht von Physik, sondern sollte als rückwärtsgewandtes, kultur-chauvinistisches Pamphlet bewertet werden.

 
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